- Kant und die kopernikanische Wende
- Kant und die kopernikanische WendeImmanuel Kant ist einer der bedeutendsten Vertreter der europäischen Aufklärung und der neuzeitlichen Philosophie. Wie außer ihm nur mit Sokrates, verbindet sich mit Kant die Vorstellung einer epochalen Wende und einer tief greifenden Zäsur in der Geschichte des Denkens. Diese Wende hat Kant vor allem mit der Neubestimmung der Aufgaben und des Gegenstandes der Philosophie herbeigeführt. Er stellte die Philosophie in den Dienst der Idee einer universalen und von der Bevormundung durch Staat und Religion freien Vernunft, an der im Prinzip alle Menschen teilhaben. Sein originärer Gedanke besteht darin, Subjektivität als schöpferischen Grund des theoretischen, praktischen, ästhetischen und religiösen Verhältnisses des Menschen in und zu seiner Welt auszumachen. Das wesentliche Mittel, mit welchem die Vernunft sich darin selbst erkennt und begrenzt, ist »Kritik« als eine Methode der Aufklärung und der Selbstbestimmung. Hier liegt die Wurzel der drei zentralen Fragen, deren Beantwortung nach Kant in die Zuständigkeit der Philosophie fällt und die sich an jeden einzelnen Menschen richten, durch eigenes Denkens mündig zu werden und sich durch Einsichten der Vernunft leiten zu lassen: Was kann ich erkennen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Weit über ihre unmittelbare philosophische Bedeutung hinaus haben die Schriften Kants die Entwicklung eines freiheitlich-modernen, sich von den Fesseln der feudalen Ordnung lösenden Denkens geprägt.Von seinem erst 1781 beendeten Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft«, das zunächst unbeachtet blieb, dann aber in zweiter Auflage (1787) zu einem viel diskutierten Bestseller wurde, ging, wie Heinrich Heine festhielt, eine solch gewaltige »Geisterbewegung« aus, dass alle Wissenschaften ebenso wie die Literatur und die schönen Künste mitgerissen wurden. Kants kritischer Geist entzündete die Gemüter der um neue kulturelle und politische Leitbilder ringenden literarischen Zirkel. Während die Französische Revolution mit dem Sturm auf die Bastille in Paris 1789 die überkommene staatliche Ordnung praktisch beseitigte, hat Kant von Königsberg aus, der damals wirtschaftlich aufstrebenden und weltzugewandten Handelsstadt in Ostpreußen, eine - mit den Worten Hegels - unaufhaltsame Revolution als »Gedanken, Geist, Begriff« durchgeführt. Es ist keineswegs vermessen, wenn Kant selbst die Wende, die er mit seiner kritischen Philosophie auf dem Gebiet der Metaphysik eingeleitet hatte, in eine »Geschichte der Revolutionen der Denkart« einordnete und mit der Leistung des Astronomen Nikolaus Kopernikus verglich, der in der Renaissance das vorherrschende, auf Ptolemäus zurückgehende geozentrische Weltbild überwunden hatte.In Übereinstimmung mit der Sphärenlehre des Aristoteles nahm man damals an, dass die Erde der unbewegte Mittelpunkt des Kosmos sei, um den die Himmelskörper kreisen. Berechnungen und Beobachtungen des Kopernikus und einiger Mathematiker führten jedoch zu Widersprüchen, die auf der Grundlage dieser Annahme nicht gelöst werden konnten. Kopernikus sah sich deshalb veranlasst, das überkommene Modell, welches mit dem natürlichen Bewusstsein in Einklang stand, zu bezweifeln. Um Fortschritte in der Erkenntnis des Weltalls zu ermöglichen, nahm er das vor, was der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn im 20. Jahrhundert einen »Paradigmawechsel« nennen sollte. Das heißt, er ging nun umgekehrt von der revolutionären Annahme aus, dass die Sonne und nicht die Erde den Mittelpunkt der kreisförmigen Planetenbahnen bildet und dass die Erde selbst ein in Bewegung befindlicher Planet ist, der sich sowohl um seine eigene Achse wie auch um die Sonne dreht. Mit diesem mutigen Schritt trug Kopernikus dazu bei, dass das geschlossene, von den Autoritäten der Religion gestützte und verteidigte homozentrische Weltbild des Mittelalters allmählich zerbrach.Mit Blick auf diesen eindrucksvollen Erkenntnisfortschritt, der der Mathematik und den Naturwissenschaften vor allem aufgrund eines axiomatisch-konstruktivistischen Vorgehens geglückt war, schlug Kant nun analog auch der Metaphysik, die für ihn beklagenswerterweise bislang nicht dazu beigetragen hatte, methodisch und systematisch das Wissen über die Welt zu erweitern, einen Paradigmawechsel vor. Sie solle nicht mehr wie bisher davon ausgehen, die Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, sondern sie solle umgekehrt die Einsichten der Vernunft - im Sinnbild der »kopernikanischen Wende« entspricht diese Vernunfteinsicht der Sonne - zum Ausgangspunkt erheben und danach den Erkenntnisprozess methodisch steuern: »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.«Kant nennt die von ihm durchgeführte kopernikanischen Wende, die Vernunft als erkenntnisleitend ins Zentrum zu rücken, »Transzendentalphilosophie«. Im Zentrum dieser Transzendentalphilosophie steht die Frage nach den »synthetischen Urteilen a priori«. Transzendental heißen dementsprechend alle Erkenntnisse, die sich nicht nur mit den Gegenständen, sondern zugleich auch mit der Erkenntnis a priori von Gegenständen befassen. Jede Erfahrung von konkreten Gegenständen beruht auf gedanklichen Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen können nicht selbst erfahrungsbedingt (a posteriori = »vom Späteren her«) sein, sondern sie sind vor aller Erfahrung a priori (= »vom Früheren her«) wirksam und somit Gegenstand der Metaphysik. Schulphilosophie und Empirismus haben beide in der Bestimmung dieser erfahrunsgsermöglichenden Voraussetzungen des Denkens versagt. Die Schulphilosophie (zum Beispiel Christian Wolff) ist für Kant dogmatisch erstarrt, da sie versucht, die Realität aus Vernunftprinzipien abzuleiten und dabei die sich wandelnden Gehalte der Erfahrung überspringt. Der Empirismus dagegen, der zwar von der sinnlichen Erfahrung ausgeht und dessen wichtigster Vertreter, David Hume - dem Kant nach eigenen Worten viel verdankt, da er ihn aus dem »dogmatischen Schlummer der Vernunft« geweckt habe - gelangt zu keinerlei allgemein gültigen Einsichten und kann, da er die skeptische Haltung gegenüber der Welt nicht überwindet, die Möglichkeit von Erkenntnis nicht begründen. Die Logik, die es lediglich mit den formalen Regeln des Denkens zur Sicherung der Widerspruchsfreiheit zu tun hat, verbleibt im »Vorhof der Wissenschaften«.Synthetische Urteile a priori beruhen nach Kant auf den beiden Stämmen des Erkenntnisvermögens: Anschauung (Raum und Zeit) und Verstand (Begriffe), die, durch die spontan-synthetisierende Leistung eines Selbstbewusstseins zusammengefasst, die Welt der Phänomene konstituieren und deren Erkenntnis ermöglichen. Die Vernunft ist hier indirekt und vermittelt wirksam. Die grundlegenden Ideen der Vernunft (Freiheit, Seele, Gott) transzendieren die Phänomene und beziehen sich auf ein noumenales »Ding an sich«, welches jedoch keinerlei gegenständliche Existenz hat, sondern als Vorstellungswelt zu verstehen ist. Kant geht hier einen wesentlichen Schritt über Descartes hinaus, der noch vom denkenden Ding (Res cogitans) gesprochen hat. Die Vertreter des deutschen Idealismus - Fichte, Schelling, Hegel - werden diesen Gedanken Kants weiter ausarbeiten. Bis zum heutigen Tag hat sich Kants konstruktivistischer Neuansatz als bahnbrechend für die Entwicklung der Philosophie, der Wissenschaften und der Wissenschaftstheorie erwiesen. Im Sinne Kants ist daher die Metaphysik die Wissenschaft von der Subjektivität, die Erfahrungen und Erkenntnisse ermöglicht und mit deren Hilfe die Welt der Objekte hervorgebracht, konstruiert und geordnet wird. Sie nimmt damit auch gegenüber der Mathematik und den Naturwissenschaften ein fundamentaleres Anliegen, das der Begründung und Prüfung der Objektivität der Erkenntnis, wahr, und sie trägt zu deren Verständnis bei.Auch in seinen Schriften zur praktischen Philosophie, insbesondere in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) und in der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788), schlug Kant eine Wende ein, bei der die Bestimmung der Subjektivität zum Ausgangspunkt der Beantwortung ethischer Fragen wird. Was getan werden soll, darüber können weder die vielfältigen empirisch erfahrbaren Ziele von Handelnden noch die vorgefundenen Normen, die in einer Gemeinschaft gültig sind oder von einer Autorität diktiert werden, Auskunft geben. Kant ging davon aus, dass Vorstellungen von Sittlichkeit und von höchsten, im Handeln anzustrebenden Zielen nicht ohne Bezug auf den freien Willen zu definieren sind. Der freie Wille, der die Autonomie des Einzelnen begründet, äußert sich weder in Willkür noch in Triebhaftigkeit, sondern in der Freiheit, sich von Einsichten der Vernunft leiten zu lassen. Eine Sollensvorschrift, welcher eine Regel der Vernunft zu Grunde liegt, wird dem Einzelnen zur Pflicht, sein Handeln daran auszurichten. Die höchste Forderung der Vernunft, die den Einzelnen zur Orientierung, zur Prüfung und zur Korrektur seines Handelns veranlasst, bezeichnet Kant als »kategorischen Imperativ«. In seiner allgemeinsten Formulierung lautet der kategorische Imperativ: »Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.« Kant verknüpfte die Moral, die sich an den Einzelnen richtet, mit der Vorstellung von Sittlichkeit und Recht. In seinen rechtsphilosophischen Schriften verpflichtet er den Staat auf Gewaltenteilung, Volkssouveränität und Menschenrechte. In seiner berühmten Schrift »Zum ewigen Frieden« (1795) entwickelt Kant das Modell zu einem Friedensbund der Völker und zu einem Weltbürgerrecht.In Preußen jedoch stagnierte die Entwicklung zu einem aufgeklärten, Meinungs- und Religionsfreiheit anerkennenden Rechtsstaat. Kurz vor Beendigung seiner universitären Lehrtätigkeit geriet der 70-jährige Kant wegen der Veröffentlichung seiner religionsphilosophischen Schrift »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1794) in Konflikt mit der Zensurbehörde Friedrich Wilhelms II., dem Nachfolger Friedrichs des Großen. Kant wurde gemaßregelt. Seine Religionsphilosophie durfte nicht mehr unterrichtet werden - ein hilfloses Vorgehen der Obrigkeit gegenüber einer Revolution der Denkart, der niemand mehr Einhalt gebieten konnte.Mit einer gewissen Ironie kontrastieren viele Biographen die revolutionäre Bewegung, die vom Werk ausging, mit Kants ruhigem, pedantisch geordneten Junggesellendasein. Gelegentlich wird bemängelt, dass Kant in seinen Hauptwerken einen »grauen, trocknen Packpapierstil« (Heine) geschrieben oder dass er eine »barbarische« Ausdrucksweise (Hegel) verwendet habe. Der Autor hat sich offensichtlich sehr bemüht, alle abenteuerlichen Spekulationen zu vermeiden und nur solche Einsichten gelten zu lassen, die einer ausführlichen Prüfung und Begründung standhalten. Kant ist seiner Heimatstadt Königsberg ein Leben lang treu geblieben und hat Rufe nach auswärts abgelehnt. Auch hat er sich im Zuge der Ausarbeitung seiner Hauptwerke von den gesellschaftlichen Kreisen, deren gern gesehener Gast er war, mehr und mehr zurückgezogen und Geselligkeiten weitgehend auf tägliches Mittagessen und -schläfchen in einer Herrenrunde begrenzt. Die Bürger Königsbergs haben auf Kants Grabstein eine Gedenktafel mit seinen berühmten Worten anbringen lassen: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«Prof. Dr. Christiane BenderGeschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 5: Rationalismus. Neudruck Stuttgart 1993—98.Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus.Taschenbuchausgabe München 1986.Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.
Universal-Lexikon. 2012.